Nie tiefer als in Gottes Hand

Ist es zynisch, Fotos von leidenden Menschen zu veröffentlichen? Vor wenigen Tagen diskutierte eine Gruppe von Journalisten die Frage, ob es Menschen zusteht, das Leid Anderer in Massenmedien zu zeigen. Das hat mich dazu bewegt, mir die Bilder genauer anzusehen: Ein verzweifelt weinender Mann hält seinen getöteten Bruder im Arm. Eine schwer verletzte Frau sitzt hilfeschreiend zwischen den Trümmern eines (ihres?) Hauses. In der ganzen Fotostrecke gab es zutiefst erschreckende Bilder von toten und verzweifelten Menschen im Kaukasus zu sehen. Da wurde die journalistische Frage plötzlich ganz nebensächlich und die andere drängte sich auf - wohl zum tausendsten Mal:

Ist es nicht zynisch von Gott, Menschen leiden zu lassen? Wieso lässt Gott so viel Elend zu? Ossetien, China, Mindanao, Darfur - die Liste der Orte, in denen es Menschen katastrophal schlecht geht, ist viel zu lang. Gibt es Gott überhaupt? Wenn ja, was ist das dann für ein Gott? Ein willkürlicher Tyrann? Ist Gott selbst zynisch? Zum Entsetzen über fremdes Leid kommen persönliche Lebenserfahrungen. Es gab durchaus Momente in meinem Leben, in denen ich dachte meinen Glauben zu verlieren. Denn wenn es Gott gäbe und er uns liebte, könnte er das nicht zulassen.

Auf der Grenze von Zweifel und Unglauben spüre ich ganz deutlich: Mein Glaube lässt mich leben. Was würde übrig bleiben ohne Gott - gerade angesichts des Leids? Ein hoffnunsloses Gefängnis aus Verzweiflung und Zynismus! Ja, Zynismus gehört zum Unglauben, nicht zu Gott. Denn dieser unergründliche Gott, der das Leiden zulässt, hat in Jesus selbst gelitten - bis hin zur Gottverlassenheit. Gott ist so nahe bei denen, die leiden, dass Gott selbst einer von ihnen wurde. Wenn ich Jesus am Kreuz ansehe, kann ich hoffen, dass Gott alle Menschen auf liebevollen Händen durch Leid und Elend trägt und sie im Tod in diesen Händen auffängt. Dann muss ich mich nicht abwenden von entsetzlichen Bildern, sondern kann ich mich berühren lassen. Vielleicht kann ich Gott in den Menschen auf den Fotos erkennen. Viel zu selten kann ich helfen. Ich glaube, dass ich immer beten kann.

Flanke, Schuss, Tor! - und der Heilige Geist

Zwei blinde Zwillingsschwestern dürfen nach einigem Hin und Her eine konfessionelle Regelschule besuchen, schneiden als Klassenbeste ab und werden mit einem Preis geehrt - und mit ihnen ihre ganze Klasse. Diese schöne Geschichte erzählte etwas ausführlicher unser Weihbischof in seiner Pfingspredigt als Beispiel für das Wirken des Heiligen Geistes.

Eine ähnliche Geschichte aus meinem Bekanntenkreis: Zwei hörgeschädigte Brüder besuchen ebenfalls nicht das zuständige Spezialinternat sondern die jeweils ihrem Alter ensprechende Regelschule. Der ältere geht bereits auf ein ebenfalls konfessionell geführtes Gymnasium und wurde letzten Sommer aufgrund seiner Zensuren für die Begabtenförderung vorschlagen (die er ablehnte, weil er "keinen Bock auf lauter Streber in der Klasse" hatte.). Der jüngere macht ständig Unsinn in der Grundschule, weil er immer viel zu schnell mit seinen Aufgaben fertig ist. Den sehr erfolgreichen Schulbesuch der beiden hat noch nie jemand auf ein außergewöhnliches Wirken des Heiligen Geistes geschoben, und ich wäre ohne diese Pfingstpredigt sicher auch niemals auf die Idee gekommen. Ist es doch die Leistung der beiden Jungs und ihrer Eltern, in diesem Fall vor allem der Mutter, dass sie so gut in der Welt zurecht kommen.

Das Wehen des Heiligen Geistes spüre ich eher bei folgender Äußerung: Die Familie erwartet zur Zeit ihr drittes Kind, dass es wieder ein Junge ist, wissen sie schon. Die erste Reaktion der Brüder auf die überraschende Nachricht: "Sobald er laufen kann, muss er sofort mit uns Fußball spielen, sonst kann er gleich gehen!" Flanke, Schuss, Tor! Was spielt es da für eine Rolle, ob auch er vielleicht hörgeschädigt ist oder welche Schulnoten er mal bekommen wird?


Martina

La clemenza di Tito

Zur Krönung Leopolds II. von Böhmen komponierte Mozart eine Oper, in der sich alles um die Milde ("clemenza") des römischen Kaisers Titus dreht. Nicht, dass es irgendwelche historischen Hinweise dafür gäbe, dass Titus ein besonders milder Regent gewesen sei. Diese Großzügigkeit in Bezug auf historische Fakten hatte ein ganz anderen Hintergrund: Eine solche Oper - ausgerechnet zu einer Königskrönung komponiert - sollte das Idealbild eines Herrschers herausstellen und dem frisch gebackenen König als Ansporn dienen. (Wie sich Leopold als Herrscher Böhmens schlug, ist mir leider nicht bekannt.) Kein Wunder also, dass diese Mozart-Oper zu den meist gespielten im 19. Jahrhundert gehörte und im 20. Jahrhundert von den Spielplänen der Opernhäuser wieder verschwand.



Vor einer Woche durfte ich eine Aufführung dieses Werkes mehr oder weniger zufällig besuchen. Ich weilte für ein paar Tage in New York und es war die einzige Gelegenheit, mal wieder in die Met zu kommen. Ohne große Erwartungen genoss ich die schöne Inszenierung und lauschte dem Fortgang der Geschichte, als sie mich völlig unvermittelt packte. Dabei war es nicht etwa Titos Großherzigkeit, die mich in ihren Bann schlug. Als Ideal für menschliches Handeln konnte ich mich mit ihr jederzeit identifizieren (ohne damit sagen zu wollen, dass ich ein besonders guter Mensch sei).


Titos Freund Sesto, der zum Verräter geworden war und einen Anschlag auf seinen kaiserlichen Freund durchgeführt hatte, bewegte mich viel mehr. Nicht sein Freundesverrat aus Liebe zu einer Frau, die ihn als Werkzeug für ihren Rachefeldzug missbrauchte, nein. Nachdem die Verschwörung aufgeflogen war, kann sich Tito nach einigen dramatischen inneren Kämpfen dazu entschließen Sesto voll und ganz zu verzeihen. Doch Sesto bettelt geradezu um seine gerechte Bestrafung, weil er mit dieser Schuld nicht weiterleben kann.


In diesen Konflikt konnte ich mich sehr gut hinein versetzen: Mir fällt es wesentlich leichter anderen zu verzeihen als mir selbst. Doch genau an diesem Punkt wird Erlösung konkret. Wenn uns Jesus Christus ganz und vollkommen durch seinen Tod und seine Auferstehung erlöst hat, dann ist das mehr als der moralische Appell, einander zu vergeben, so wie wir im Vaterunser beten: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern." Dann ist das die letzte und einzige Möglichkeit mich selbst anzunehmen, gerade mit allem, was ich mir nicht selbst verzeihen kann. Das ist nicht leicht. Aber es hilft, mir bewusst zu machen, dass Gott mich so liebt, wie ich bin. Und wenn ich diese Gewissheit aushalte, dass Gott mich bis in die dunkelsten Winkel meiner Seele hinein liebt, ist der wichtigste Schritt bereits getan, mich annehmen zu können.


Am nächsten Morgen ging ich noch im St. Patrick's Cathedral zur Messe und was mit "La clemenza di Tito" begann fand in der Predigt von Kardinal Egan seine Forstsetzung. Auch er wählte das Thema Erlösung und brachte es meiner Erinnerung nach so auf den Punkt: "Don't make a drama about sin, make a drama about salvation." (Mach kein Aufheben um deine Sünden sondern um deine Erlösung.)

Josef P.

"...sahst Du mich an."

Ich will Euch auch was erzählen - von meinen Erlebnissen. Schon lange. Seit ich versuche über religiöse Erfahrung zu schreiben, verstehe ich, wieso sich Spiritualität so häufig in Kunstwerken ausdrückt: Weil glauben ganz einfach ist, darüber sprechen aber nicht immer leicht fällt. Deshalb mache ich heute eine Anleihe bei Ernesto Cardenal. Er hat ein Gedicht verfasst ("Ich löschte das Licht, um den Schnee zu sehen..."), dessen Form ich mit meinen eigenen Erfahrungen während einer Exerzitienwoche fülle: Gott begegnen ist ganz einfach.

Ich setzte mich um zu meditieren und sah das Licht der Kerze.
Doch dann sah ich, dass die Flamme der Kerze nur ein Lichtschein ist, und durch dieses Licht sahst Du mich an.

Ich versuchte zu meditieren und hörte den Lärm der Baustelle und das Rauschen des Heizkörpers.
Doch dann hörte ich, dass alle diese Geräusche auch Klänge sind, und durch diese Klänge sprachst Du mich an.

Ich konzentrierte mich auf meinen Atem und spürte, wie die Luft durch meinen Körper ein- und ausströmt.
Und da spürte ich, dass dieser Strom Dein Lebensatem ist, und durch diesen Atem bläst Du Dein Leben in meine Seele.

Ich reichte die Schale weiter, die mit dem Brot, das Du selbst bist, und berührte die Hand eines Menschen.
Dabei fühlte ich, dass das Ertasten von Nähe, Wärme und Brot wieder nur Berührungen sind, und in diesen Berührungen rührtest Du mich an.

Ich salbte die Hände einer Frau, die mir vorher das Gleiche getan hat.
Und ich lernte, dass in der Zärtlichkeit von Geben und Nehmen die Gemeinschaft entsteht, deren Mitte Du selber bist.


Martina

Ansteckungsgefahr!

"Ich muss euch was erzählen!" Wenn die "beste Ehefrau von allen" - ok, ist bei Kishon geklaut, stimmt aber trotzdem! - schon mal so eine Rede beginnt, spitzen alle die Ohren.

Unsere Familie saß bei einem späten Frühstück, als meine Frau uns berichtete, was sie kurz zuvor an der Kasse eines Supermarktes erlebt hatte. Vor ihr war eine alte Frau an der Reihe, die jede Menge Waren auf das Förderband legte unter anderem einen Strauß Tulpen. Als sie alles bezahlt und wieder verstaut hatte, nahm sie den Blumenstrauß und schenkte ihn der Kassiererin. "Für Sie." Dass diese völlig überrascht, zutiefst gerührt und erfreut war, wird jeder nachvollziehen können.

Doch diese kleine Begebenheit ging noch weiter. Als sich meine Frau, die nur ihren Korb dabei hatte, abmühte, die gescannten Waren schnell genug wieder in ihren Korb zu packen, schob der Herr, der hinter ihr in der Kasseschlange stand, seinen Einkaufswagen ran und stellte ihren Korb hinein, damit sie in Ruhe einpacken und zahlen konnte. Er lächelt meine Frau an und meint: "Gute Taten stecken halt an."

Josef P.

Wie Beten ganz leicht wird

„Allahu akbar“, ruft der Muezzin der Muslime: „Gott ist größer!“ „Was immer du denkst, was immer du sagst: Gott ist größer! Bei den Juden ist das, glaub ich, ähnlich. Der Mensch soll sich kein Bild von Gott machen, er würde etwas Unmögliches versuchen. Gott ist größer!

Christlich gesehen ist das genau so. Es ist jedoch auch umgekehrt. Gott ist der Größte und zugleich der Kleinste. Ein abenteuerlicher Gedanke!

Herodes brachte aus Angst um seinen Thron vorsichtshalber alle Knaben um. Jesus wollte den Palast überhaupt nicht. Die Menschen wollen bedient werden. Gott wusch Füße. Alle Welt will hoch hinaus: Der Herr über alle Konten wollte nicht mal ein eigenes Zuhause. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“: Jesus hat uns Gott gezeigt; Der Größte ist der Kleinste.

Natürlich bleibt Gott der Gott in Ewigkeit, natürlich der Herr der Heere. Natürlich wird jedes Knie sich beugen; Er ist aber zugleich genau derselbe, der am Kreuz zum Herz zerreißen jammerte; auch wenn er der Tapferste war. Wir denken zu wenig über Gott nach; Ich meine wirklich.

Wir Menschen wollen einander kennenlenen. Wir wollen voneinander was zu erzählen haben, den lieben langen Tag. Neugier über Neugier. Wenn wir von Gott reden, sind wir gleich schon immer irgendwie fertig. Gott ist eben Gott, punkt. Hand aufs Herz: Wann haben wir zuletzt wirklich über Gott gesprochen? Über seine Größe, Liebenswürdigkeit, über sein Opfer für uns? Die Engel preisen ihn und können nicht genug davon bekommen, weil sie ihn sehen, weil sie sehen, wie er ist. Wollen wir ihn nicht mal wieder kennenlernen und entdecken?

Thomas von Aquin nennt ihn das Wunderbarste, Liebenswürdigste, schlechthin. Der Gott, den man einfach nur lieb haben will, sobald man ihn nur ahnt. Jesus nennt ihn unseren Vater. Dann muss er einer sein, dem man auf den Schoß springen und ihn feste drücken möchte. Ob das stimmt? Sollten wir das entdecken, dann beten wir ganz von selbst. Dann ist es wirklich ganz leicht.

J.R.Hanses

Betende Radfahrer

Manchmal stellt man im Gespräch mit Kollegen fest, dass man vielleicht gleiche Bekannte hat, schon mal am selben Ort Urlaub machte oder das gleiche Hobby pflegt. So stießen eine Kollegin und ich darauf, dass wir beide die Zeit des Radfahrens zur Arbeit zum Gebet nutzen.

Geschenkte Zeit

Ich fühle mich priveligiert, dass ich so nah bei meiner Arbeitsstätte wohne, dass ich in knapp zehn Minuten auf teils wenig befahrenen Nebenstraßen dorthin radeln kann, was ich natürlich gerne tue. Irgendwie ganz von selbst stellte sich dann auf diesem Weg ein, dass ich mit meinen Gedanken bei Gott landete: Da waren Dinge, die im Beruf an diesem Tag anstanden und deren Ausgang noch ungewiss war. Oder ich musste an die Kinder denken, die eine wichtige Schulaufage zu meistern hatten. Zum Glück seltener ging mir ein Streit mit meiner Frau nicht aus dem Sinn, den wir noch beim Frühstück hatten. Manchmal war es einfach nur die Freude über einen strahlenden Morgen, der mich auf dem Fahrrad ganz anders anlacht als durch eine Windschutzscheibe. Ganz normale Dinge eben, die jeder von uns kennt. Wenn ich so meinen Gedanken nachhing, mündeten sie automatisch in einem Gebet, in einer Zwiesprache mit Gott. Oft in einer Segensbitte für den heutigen Tag mit allem, was er mir und den Menschen, die mir am Herzen liegen, bringen mag. Oder einfach auch nur in einem spontanen DanK: "Danke, lieber Gott, für diesen schönen, neuen Tag!" Es gesellten sich auch ein paar vorformulierte Gebete wie das Vaterunser oder ein Gebet um den Heiligen Geist hinzu, sodass der Weg zur Arbeit zu einem echten Ritual geworden ist. Dieses Ritual bewahrt mich davor, einfach so in (und damit meist durch!) den Tag zu stolpern.
Eine Zeit lang hatte ich zum Sprachenlernen fremdsprachige Podcasts auf dem Arbeitsweg angehört. Doch habe ich dies wieder aufgehört, weil ich merkte, dass mir diese wenigen Minuten mit mir und Gott am Beginn meines Tages fehlten.

Josef P.